Rind und Wir - April 2022

MIT VOLLGAS IN DIE ZUKUNFT Gibt es Konzepte in der Milchviehhaltung, die überzeugen? Würde man die Landwirte früherer Generationen mit den heutigenThemen undWissen aus ihrem Fachgebiet konfrontieren, würden sie wohl vor Ehrfurcht verstummen – oder vor Schock. Die Forschung und die Möglichkeiten zur Auswertung der erfassten Informationen scheinen schier endlos. Hinzu kommt der Input aus Politik, Wirtschaft, Umwelt- undTierschutz. Und doch muss der Landwirt, unabhängig von der Betriebsgröße, die für ihn jeweils wichtigsten Fakten erkennen und eben auch für sich umsetzen und nutzen können. Wir haben mit Dr. Anke Römer von der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei in Mecklenburg-Vorpommern (LFA MV) gesprochen, die sich gemeinsammit Dr. Bettina Bongartz von der Deutschen Gesellschaft für Züchtungskunde (DGfZ) und weiteren Kollegen mit Zukunftskonzepten undVisionen für die Milchviehhaltung beschäftigt hat. Bei der Züchtung von Nutztieren rücken heute immer mehr Themen wie Klimaschutz und Tierwohl in den Fokus. Seit zwei Jahrzehnten werden Milchkühe in Deutschland nicht mehr einseitig auf Milchleistung gezüchtet. Wie beurteilen Sie die derzeitige Entwicklung? Die Nutzungsdauer und die Gesundheit der Kuh wurden züchterisch 2021 wieder neu gewichtet. Die Qualität der funktionalen Merkmale in der Zuchtwertschätzung konnte in den letzten Jahren deutlich erhöht werden (Abbildung). Möglich wurde dies durch Fortschritte in der Biotechnologie und Biostatistik. Die Verfügbarkeit und umfängliche Verwendung von SNP-Markerinformationen, den Genomics, löste ab 2010 eine Revolution in der Tierzucht aus. Wie wirkt sich das genau aus? Das Generationsintervall verkürzt sich und der Zuchtfortschritt hat sich besonders in den Fitnessmerkmalen mehr als verdoppelt. Die Einführung von Gesundheitszuchtwerten läutete eine neue Ära der Zuchtwertschätzung ein. So lassen sich auch betriebsindividuelle Zuchtziele leichter erreichen. Ein zukunftsfähiges Konzept im Anpaarungsmanagement könnte sein: Fleischrinder für Gebrauchskreuzungen anpaaren, gesextes Sperma, Verkauf von Jungkühen sowie weiblichen Jungrindern und die Zwischenkalbezeit verlängern. Wo liegen die Vor- und die Nachteile bei dieser Handhabung? Ja, uns ist es wichtig immer sowohl die Vor- als auch die Nachteile zu beleuchten. Kreuzungskälber erzielen einen besseren Preis, können aber einen schwierigeren Kalbeverlauf auslösen. Eine höhere Nutzungsdauer bringt vermehrt Stoffwechsel- und andere Erkrankungen zu Tage – ältere Kühe werden nun mal auch häufiger krank. Um nur zwei Beispiele zu nennen. Haben Sie Erfahrungen mit der Erhöhung der Nutzungsdauer von Milchkühen durch die Verlängerung der Wartezeit von der Kalbung bis zur Besamung sammeln können? Untersuchungen der LFA MV ergaben eine bessere Beständigkeit der Laktation bei spät besamten Kühen. Die hohen Milchleistungen im ersten Drittel der Laktation führten zu deutl ich höheren 305-Tage-Leistungen dieser Kühe, mehr als 1.000 kg Milch. Zusammen mit einem verringerten gesundheitlichen Risiko der Kühe wirken sich verlängerte Zwischenkalbezeiten positiv auf die Lebenseffektivität der Kühe aus. Berechnet anhand reeller Daten der Testherden der RinderAllianz wurde eine Modellkalkulation erstellt für eine Kuh mit fünf bzw. nur drei Kälbern innerhalb von 5 Jahren. (Tabelle) Was können die Landwirte mit Blick auf eine nachhaltigere Milchproduktion bezüglich der Haltung tun? Es bedarf grundlegend einer intensiven Kälberaufzucht, einer Verringerung der Abgangsrate bei Jungkühen, um eine deutlich höhere Nutzungsdauer und geringere Reproduktionsraten zu erzielen. Dr. Anke Römer von der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei in Mecklenburg-Vorpommern Abbildung: Entwicklung des Gesamtzuchtwertes für Deutsche Holsteins (Quelle vit, 2021) Tab.: Kalkulation der Effizienz der Milchproduktion bei differenzierter Laktationsdauer in 5 Jahren (Quelle: LFA MV, 2021) Anzahl einb zogener Kühe Kuh5 Kuh3 Differenz Anzahl Kälber 5 3 -2 Milchmenge je Kuh und Laktationstag (kg) 27.701 33 (ZKZ 340-370 d) 32 (ZKZ >460 d) -1 Milchmenge in 5 Jahren (kg) 53.757 (1.629*33) 55.264 (1.727*32) + 1.507 Krankh it p.p. (Diagnosen je Kuh und Laktation Tag 030) 184.483 5,36 Krankheit p.p. (Tag 0-30) in 5 Ja ren 5 x 5,36 Behandlungen =26,8 3 x 5,36 =16,1 - 10,7 Behandlung en je Kuh Abgangsrisiko 2 x reduziert Abb.: Entwicklung des Gesamtzuchtwertes für Deutsche Holsteins (Quelle vit, 2021) Infokasten (Vorschlag): Weitere Aspekte wie das Fütterungsmanagement und die Rationsgestaltung, ControllingRINDUNDWIR April 2022 44

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